2022-10_Ein Forschungsbericht: Das Facettenreiche Leben von Lisa Ritter

Das facettenreiche Leben von Lisa Ritter

Es hört sich an, wie eine Geschichte aus dem Mittelalter, aber es ist tatsächlich „schon“ die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als der Bauerssohn Arthur Arnold Ritter aus dem brandenburgischen Seeren (heute Żarzyn, Polen) per Heiratsagentur an die älteste Tochter des Bauern Wilhelm Rex im Nachbarort Herzogswalde (heute Żubrów, Polen) vermittelt wird und mangels männlicher Nachkommen in der Familie Rex den Hof nach der Hochzeit übernimmt. Ob diese Zweckehe von Liebe erfüllt ist, lässt sich schwer sagen, doch Arthur  und Frieda bekommen, nach einer Totgeburt, vier Kinder: Horst Hartwig Arthur Gustav (05.09.1926), Gisella Marianne Frieda (07.06.1928), Burghard Joachim Wilhelm (10.12.1929) und die Nachzüglerin Lisa Brigitte Barbara (12.06.1938).

Kindheit in Herzogswalde

Die glückliche Kindheit währt insbesondere bei Lisa nur kurz, denn der Zweite Weltkrieg macht auch vor dem Dorf östlich der Oder keinen Halt: Zunächst wird der älteste Sohn Horst eingezogen, welcher im Alter von 17 Jahren am 05.08.1944 in Pomezia, Italien fällt. Dann nehmen russische Soldaten das Dorf ein. Während die Frauen und Kinder die Häuser räumen und im nahen Gutshaus einquartiert werden, verschleppen die russischen Soldaten die noch im Dorf verbliebenen Männer und älteren Jungen. Auch Arthur ist unter ihnen, von dem erzählt wurde, dass er im April 1946 auf den Weg nach Moskau im Gefangenentransport verstarb. Ein Nachweis gibt es darüber jedoch nicht. Im zugigen Gutshaus und durch die nicht ausreichende Versorgung mit Nahrung, verstirbt die Mutter Frieda am 13.04.1945. Die drei Kinder bleiben nun als Waisen allein zurück.

Nach Kriegsende verschlechtert sich die Situation immer weiter und schließlich wird die verbliebene Dorfbevölkerung am 26.06.1945 von den russischen Besetzern aufgefordert, ihr Hab und Gut – welches noch nicht von den Soldaten konfisziert wurde – zu nehmen und zu verschwinden. Wohin? Richtung Westen und über die Oder, denn die stellt die noch nicht offizielle, aber schon neue Grenze von Deutschland Richtung Osten dar. Den drei Kindern bleibt nichts anderes übrig als mitzugehen. Im Gepäck ein paar Kleidungsstücke, etwas Essen und – wohl dank der kleinen Lisa – das Familienstammbuch sowie einige wenige Fotos aus der glücklichen alten Zeit. Als die Dorfgemeinschaft endlich die Oder und somit die Grenze überquert, ist der Zweck der Reisegruppe erfüllt: Man ist im sicheren Deutschland, zu dem das heimatliche Dorf Herzogswalde nun nicht mehr gehört. Die Dorfgemeinschaft löst sich an der Oder auf und die ehemaligen Nachbarn gehen nun getrennte Wege. Der damals 17jährige Augenzeuge Dr. Helmut Munkow hat seine Erlebnisse viele Jahre später aufgeschrieben, aufgearbeitet und die traumatischen Erlebnisse aufgezeichnet. Auch einen Lageplan vom Ort hat er erstellt, auf dem der Hof von Wilhelm Rex nahe dem Ortsausgang Richtung Zielenzig verzeichnet ist.

Warum mich diese Geschichte und die Aufzeichnungen von Dr. Munkow so berührt hat? Er war ein Schulfreund von Burghard Ritter und die Geschichte des Ortes sowie die Geschichte der Familie Ritter, ist die Geschichte meiner Oma. Besser gesagt meiner Stiefoma, denn sie war die zweite Frau meines Opas Heinz, aber für mich war sie immer nur Oma Lisa.

Flüchtlingskinder in Berlin-Brandenburg

Und wie geht die Geschichte weiter? Meine Oma und ihre Geschwister schlagen sich nach Berlin durch, denn dort wohnt die Schwester ihrer Mutter und vor ihrem Tod hat sie ihren Kindern mitgeteilt „Geht zu Tante Else, sie wird euch aufnehmen. Nehmt auch die Decken mit, die gehören ihr, sie hat sie bei uns eingelagert.“ Was das für Decken sind, weiß keiner mehr, aber sie müssen wohl wertvoll gewesen sein, wenn sie in Kriegszeiten so behütet wurden. Aber kaum sind die Kinder in Berlin an der Tür ihrer Tante, nimmt diese die Decken im Empfang – und scheucht die Kinder weg! Sie habe „keinen Platz für drei hungrige Mäuler“.

Die drei Waisenkinder ziehen weiter, verlassen Berlin und kommen nach Elisenau, einem kleinen Dorf nordöstlich von Berlin, wo Burghard Arbeit bei einem Bauern und eine Bleibe für sich und seine Geschwister findet. Gisella bekommt im nahe gelegenen Krankenhaus Buch eine Anstellung, wo sie später auch eine Ausbildung zur Krankenschwester macht. Das gemeinsame Leben währt für die drei Ritter Kinder jedoch nur kurz, wobei es zwei Versionen des nächsten Abschnittes gibt, deren tatsächlicher Ablauf leider nicht mehr nachvollzogen werden kann: Entweder wurde die Gemeinde auf die zwei Jugendlichen mit ihrer erst 6jährigen Schwester aufmerksam und nahm Lisa in ihre Obhut oder die beiden älteren Geschwister merkten selbst, dass sie sich nicht um die kleine Schwester kümmern konnten und gaben sie im Kinderheim Bernau in fähigere Hände.

Adoption und neues Künstlerleben

Egal wie es dazu kam, nun tritt August Anton Joseph Nagels und seine Frau Herta Henriette Reichmann auf der Bühne auf und das im wahrsten Sinne des Wortes: August Nagels ist Künstler in dritter Generation und mit den Drei Nagels auf den Varietébühnen in Europa unterwegs. Auch wenn seine Familie ursprünglich aus dem Rheingebiet kommt, wurde er in Turin geboren, wie ein Programmheft verrät – mehr weiß ich bis jetzt nicht über ihn. Auch wer die beiden Jungen neben ihm auf dem Bild sind, ist unklar – vielleicht seine Söhne?

August und seine jüdische Frau Herta – wie sie den Holocaust des NS-Regimes überlebt hat, ist bisher nicht bekannt – suchen ein kleines Mädchen zur Adoption. Dieses soll in die künstlerischen Fußstapfen der Adoptiveltern treten, sodass darauf geachtet wird, dass die Kleine sportlich und beweglich ist. Die Wahl fällt auf meine Oma, die zunächst jonglieren lernt und neben der normalen Schule nun auch die Artistenschule besucht. Doch August Nagels war bei der Adoption bereits an Krebs erkrankt und als die Krankheit immer weiter voranschreitet und er für Auftritte immer schwächer wird, muss nun die kleine Lisa bei Auftritten der Familie Yssim teilnehmen, wie sie selbst erzählte. Dabei war sie die Fliegerin, denn Familie Yssim zeigte dem Publikum ikarische Spiele vor, bei dem die kleine, leichte Lisa mit den Füßen in die Luft geworfen wurde und Salti machte.

Um die Wege zu den Auftritten zu verkürzen, hat die Familie eine kleine Einzimmerwohnung in der Kollwitzstraße. Doch bald ist Vater August so schwach, dass die Krankenpflege vom Mann und die Auftritte von Lisa so viel Zeit von Herta einnehmen, dass Haus und Garten in Röntgental vernachlässigt werden. Also verkauft die Familie ihr Haus und zieht nach Berlin in die Winstraße 46, Prenzlauer Berg. Nur wenige Monate nach dem Umzug, am 31.10.1951, stirbt August Nagels und wird auf dem jüdischen Friedhof Weißensee beigesetzt. Hier existiert das Sonderfeld MV-S, wo Verstorbene aus Mischehen zwischen Juden und Andersgläubigen ihre letzte Ruhe finden.

Lisa besucht nun die Schule in der Kollwitzstraße und erhält daneben, wahrscheinlich aufgrund der jüdischen Adoptivmutter, weiteren Unterricht in der Synagoge in der Rykestraße. Ab wann sie keine Auftritte mehr absolviert, ist nicht bekannt.

Karibische Zeit auf Trinidad

Wenige Monate nach dem Tod ihres Adoptivvaters reist Lisa mit „Onkel Harry“, einem Arzt und Mitglied der Familie Nagels nach Trinidad zu einer Tante, die dort eine Kaffeeplantage besitzt. Nach etwas mehr als einem Jahr muss Onkel Harry die Insel aus gesundheitlichen Gründen wieder verlassen. Die Tante hätte Lisa gern bei sich behalten, aber sie entschied sich für Berlin und reist mit Onkel Harry wieder zurück. Nach der Rückkehr aus Trinidad will Lisa aus nicht bekannten Gründen nicht mehr zu ihrer Mutter in den Prenzlauer Berg zurück. Sie findet Aufnahme bei ihrer Nenntante, Margarete Gold, eine Freundin von Herta, die in der Togostraße in Wedding wohnt. Nach dem Schulabschluss arbeitet Lisa als Gärtnerin im Schlossgarten vom Schloss Niederschönhausen und ab 1956 macht sie eine Ausbildung zur Krankenschwester im Rotkreuz Krankenhaus in der Drontheimer Straße in Wedding. Diese Ausbildung beendet sie jedoch nicht.

Heirat und Familie

Es ist reine Spekulation wie sich meine Großeltern kennengelernt haben, doch da mein Opa, Witwer mit 8 Kindern, in der Drontheimer Straße wohnte und sich das Krankenhaus, in dem meine Oma ihre Ausbildung anfing, in der gleichen Straße liegt, kann es nur Zufall oder Schicksal gewesen sein, dass sich die beiden irgendwann über den Weg liefen. Auch wenn Oma Lisa auf die Frage, warum sie geheiratet haben, geantwortet hat „aus Liebe“, muss diese Liebe sehr stark gewesen sein, wenn ein 25jähriges Mädchen einen 30jährigen Witwer mit acht Kindern im Alter von 1 bis 10 Jahren am 03.10.1963 das Ja-Wort gibt. Jedenfalls erblickt die gemeinsame Tochter Andrea als Nesthäkchen der Familie am 30.05.1964 in Schöneberg das Licht der Welt.

Bereits am 26.02.1961 hatte mein Opa mit seiner ersten Ehefrau eine Laube in Reinickendorf erworben. 1965 wurde ein zwangsweiser Wechsel der Laube innerhalb der Kolonie nötig. Wegen des Baus der Till-Eulenspiegel Grundschule mussten sie ihre alte Laube verlassen und erwarben eine sehr herunter gekommene Laube auf der anderen Seite der Lindauer Allee. Diese wurde nach und nach umgebaut und hier verbrachten meine Großeltern mit ihren Kindern viel Zeit. Lisa hegte und pflegte ihren Garten und selbst die nächste Generation hörte immer wieder die Rufe „Raus aus meinen Blumen“, wenn man einen verirrten Fußball zwischen den Margariten suchte oder Fangen im Garten spielte.

Mit dem Bau der Berliner Mauer befinden sich die Adoptivmutter Herta sowie die ebenfalls verheirateten Geschwister von Lisa nun auf der anderen Seite der Grenze. Zunächst reißt der Kontakt zu ihnen fast vollständig ab, kann später aber wieder aufgenommen werden.

Im November 1964 zieht die Familie um und bewohnt nun in Kreuzberg die gesamte oberste Etage einer Altbauwohnung. Um die Wohnung zu bekommen, mussten Oma Lisa und Opa Heinz jedoch die Hauswartstelle übernehmen. Mit 8 Kindern und der Hauswartstelle war der Tag sicher gut ausgefüllt und es wurde nie langweilig im Hause Förster. Trotzdem arbeitet Lisa zeitweise abends zunächst in der Hauskrankenpflege, dann in der Osram-Fabrik und später bei der Heimarbeit.

Ihre Adoptivmutter Herta lebt mittlerweile in Pankow in der Anton-Saefkow-Straße 8. Sie stirbt am 02.11.1980 und wird neben ihrem Mann auf dem jüdischen Friedhof Weißensee beigesetzt. Das Grab der beiden ist noch heute dort zu finden.

Lebenssommer

Nachdem die Kinder erwachsen und selbstständig sind, ziehen Lisa und Heinz 1983 in eine 3-Zimmer-Wohnung in Wilmersdorf. Nun versammelt sich die Großfamilie in der Zoppoter Straße 2 und wächst durch die Lebenspartner der Kinder an. Schließlich werde ich, als erste Enkeltochter geboren. Es folgen noch vier Enkelsöhne und eine weitere Enkeltochter.

Schon vorher hatte Lisa begonnen über eine Zeitanstellung bei der BfA (Bundesanstalt für Arbeit) zu arbeiten. Diese hatte Hilfskräfte für eine komplette Neustrukturierung des Archives gesucht, meine Oma hat sich bewährt und dort bis zur Rente 1998 als Archivarin gearbeitet. Meine Großeltern liebten es am Wochenende in ihren Garten zu fahren und als beide nicht mehr arbeiten mussten, wurden viele Tage dort verbracht.

Obwohl meine Oma so viel erlebt hat, hat sie kaum etwas darüber erzählt. Wenn man sie gezielt gefragt hat, dann hat sie meist nur einzelne Fragmente ihres Lebens preisgegeben, die ich versucht habe, in diesem Bericht zusammen zu fügen. Viele Informationen zum Beispiel über ihre Eltern und ihr Leben in Herzogswalde oder über ihre Adoptiveltern und die wenigen Details aus ihrem Leben als Artistenkind, habe ich leider erst nach ihrem Tod erfahren.

Jessica

Berlin, 30.10.2022

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