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Siegfried Rösch – Mineraloge und Genealoge

Jessica • 14. November 2023
Was hat die Kleinbildkamera Leica mit der Familienforschung von Goethes Verwandtschaft zu tun – genau, beides wurde maßgeblich von Siegfried Rösch vorangetrieben! Doch auch wenn das Internet einiges an Informationen über Dr. rer. nat. Rösch liefert, ist sein Artikel „Gedanken zur Genealogie“ viel besser geeignet, ihn und seinen Antrieb Familienforschung zu betreiben, zu beschreiben:

Der erste Weltkrieg, in den ich als blutjunger Notabiturient gezogen war, endete für mich im November 1918 mit einer Gelbkreuzgasvergiftung, der ich als einziger von 90 Schicksalsgenossen lebend entging. Im Kriegslazarett Maubeuge tröstete mich ein gemütvoller Arzt in seiner Art: Er glaube ja nicht, daß ich es schaffen werde, wenn aber doch, dann solle ich mich schon gleich mit dem Gedanken dauernder Blindheit vertraut machen! Vielleicht hat dies den Grundstein zu meinem unbesiegbaren Optimismus bei größeren Vorhaben gelegt. "Das Beste hoffen und tätig sein." Denn ich hatte noch viel vor. Die zweijährige Lazarettzeit brachte mir neben wertvollen Freundschaften und der Möglichkeit, mein Weltbild anhand von 0. Spenglers Werk u. a. Lektüre in Muße auszuweiten, die erste Berührung mit der Familienforschung: Seit der damaligen Erarbeitung der eigenen Ahnenschaft und Seitenverwandtschaft riß die Beschäftigung damit kaum mehr ab. Die erste Hilfsstellung dabei verdanke ich einem Onkel, Direktor Georg A. Werner in Stuttgart, einem Mitbegründer des Vereins für württ. Familienkunde, und ich lebte mich schnell ein in die große schwäbisch- fränkische Geistesverwandtschaft, die mir dann beim Erscheinen von H. W. Raths "Regina" schon wohlvertraut war; sind doch z. B. Hölderlins väterliche Großeltern direkte Vorfahren, Anselm Feuerbachs, des Malers, Mutter eine nahe Verwandte von mir. Als ich gar (durch Musik und Zufall) mir in Dresden meine liebe Lebensgefährtin holen konnte, die eine große Familie und Ahnenschaft aus Thüringen, Ostfriesland und Tirol mitbrachte, mußte ich schon System in die Fülle von Familienblättern, -tafeln und -notizen bringen, um Übersicht zu behalten. Ich erfuhr, daß man nicht früh genug mit dieser persönlichsten und interessanten historischen Wissenschaft beginnen kann, um noch recht viele "Alte" ausfragen zu können. Ich erfuhr aber auch, daß für das, was man gern tut, sich stets auch die Zeit findet, und ich entdeckte die Schönheit der frühen Morgenstunden. Fast noch wertvoller war die Erkenntnis, daß man auch vor großen, unbewältigbar erscheinenden Aufgaben, wenn nur ihr Ziel klar erkannt ist, nicht zurückschrecken soll.- Irgendwo frisch begonnen, werden sie langsam immer kleiner; man schafft zuerst ein Tausendstel, dann bald ein Hundertstel, dann ein Zehntel, ein Viertel, schon ist die Hälfte erreicht und dann bleibt ein immer kleiner werdender Rest! DIN-Formate und Dezimalklassifikation kamen mir zur rechten Zeit als nicht unwichtige technische Helfer zur Kenntnis. Dies alles kam mir zugute bei der Erstellung meines Familien-Bilderarchivs, bei der Erfassung der gesamten Sippe Keerl (aus Mainfranken), und nach der Übersiedlung von Leipzig nach Wetzlar (1933) bei der allmählichen Bearbeitung der Sippe Buff und der Verwandtschaft Goethes. In diesen beiden Fällen war eine Publikation zuerst nicht geplant, die Bearbeitung erfolgte nur zur eigenen Informierung.

Diese mehr formalen Studien zeigten mir immer deutlicher, daß es mit bloßer Zusammenstellung von Namen, Daten und Bildern nicht getan ist, wenn diese auch das notwendige erste Gerüst bilden müssen. Die biologischen, soziologischen, die räumlichen und zeitlichen Beziehungen der Menschen untereinander sind so vielfältig und oft aufregend, daß deren Studium wohl zum Anspruch berechtigt ist, eine eigene Wissenschaft zu sein. Darüber hinaus aber hat mich immer wieder am meisten verblüfft die Beobachtung, daß nicht nur in den Methoden eine Wissenschaft von der anderen lernen kann, sondern daß auch in den Ergebnissen und selbst in der gedanklichen Struktur oft heterogen erscheinende Wissensgebiete verblüffende Ähnlichkeiten erkennen lassen. So scheint es mir, um wenigstens Andeutungen zu machen, nicht bloß ein Spiel des Zufalls zu sein, daß die Eigenschaftvererbung in der menschlichen Genetik analoge Baugesetze verrät wie die Farbenmischungslehre, daß zwischen Mineralchemismus und Verwandtschaftslehre manche frappante Ähnlichkeit besteht. So schien es mir also (ob nun solche Analogien reelle Beziehungen darstellen oder nicht) fruchtbar zu sein, den mathematischen Gesetzen nachzuspüren, die die Genealogie beherrschen. Daß dies für viele Forscher eine spröde, ja unerfreuliche Sache zu sein scheint, und daß infolgedessen noch recht wenig Vorarbeit getan ist, spricht nicht unbedingt gegen sie. Mir hat die Beschäftigung mit diesen Fragen schon manche schöne Stunde beschert, und ich glaube, es gibt kaum etwas Beglückenderes, als in ein Neuland vorzustoßen mit dem Bewußtsein, daß neue Erkenntnisse und Einblicke in das Naturgeschehen damit verbunden sein können.

Anmerkung: Die Aufforderung der Schriftleitung erfolgte beim Deutschen Genealogentag am 17.9.1960 in Aachen. Röschs "Gedanken zur Genealogie" wurden veröffentlicht in: Familie und Volk (1961), Heft 1, Seite 291-292.

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